Der Anfall und der Mensch

Von Jörg Wehr

«Deine Beine strecken sich. Es zieht dich zusammen. Alles zittert. Mit dieser plötzlichen Wucht beginnt es.» So beschreibt Manuel Bauer, Seite 10, einen schweren epileptischen Anfall seines Sohnes. «Deinen Kopf hat es auf die Brust geworfen. Da halten ihn die Muskeln gefangen, mit voller Kraft», schreibt er weiter und fleht: «Atme, Bub, atme.» Hier wird die Not eines Vaters und einer Mutter bewusst, wenn ihr Kind dem Ungeheuerlichen eines epileptischen Anfalls ausgesetzt ist. Ganz in diesem Sinne berichtet schon im Neuen Testament im 9. Kapitel des Markusevangeliums ein Vater: «Und wo er ihn erwischt, reisst er ihn zu Boden; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr.» Von klein auf leide sein Junge unter solchen Anfällen, berichtet er, «und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte.»


Das Leben mit der Gefahr immer wiederkehrender epileptischer Anfälle und auch deren Behandlung kann für Betroffene sehr belastend sein (vgl. Schmutz 2008, Seite 28ff und Leyhe 2016, Seite 44). Auch Angehörige, insbesondere die Eltern, haben nicht selten so sehr unter der Epilepsie ihrer Kinder zu leiden, dass sie selber psychisch krank werden können und der familiäre Zusammenhalt gefährdet ist (vgl. Sälke, Seite 43).


Als ich als junger Radioproduzent Mitte der 1970-Jahre der Tatsache epileptischer Anfälle begegnete, hat mich dieses Phänomen tief beeindruckt – und alsbald bin ich mit meinem Aufnahmeteam in ein Epilepsiezentrum im deutschen Bielefeld gereist. Ich wollte mehr erfahren und fragte, was denn da genau passiert, wenn jemand einen epileptischen Anfall hat.


Ich weiss nicht mehr, ob und wie uns Wilfried Scheele diese Frage damals beantwortet hat. Er war Öffentlichkeitsreferent der von Bodelschwingh’schen Anstalten, wie das Zentrum seinerzeit noch hiess. Woran ich mich aber noch gut erinnere ist die Tatsache, dass er von Epilepsie betroffene Menschen einlud, damit sie mit uns über ihre Anfälle und deren Auswirkung auf ihr Leben sprechen konnten. Und es waren in der Hauptsache diese Gespräche, die wir dann in unserer Sendung verarbeitet haben. Wilfried Scheele ist mir zum Vorbild geworden: Er stellte den Menschen in den Mittelpunkt, nicht die Krankheit, das Gespräch mit dem Menschen und nicht über ihn und sein Problem.


«Fünf Schritte. An keinen wird sich Lucas erinnern können. Fünf Schritte, sie sind die Zäsur. Das alte Leben, der gesunde Lucas, war vorher.  Fünf Schritte, ein Gewitter im Kopf: Lucas schlägt jäh auf dem harten Zimmerboden auf. Sein ganzer Körper krampft, zuckt, aus dem Mund tritt Schaum. Drei Minuten, drei dramatische Minuten lang.» So beschreibt Katrin Sutter in Tigerherz, Seite 12, den Moment, der das Leben der grossen Hoffnung des Schweizerischen Turnverbands, des sogenannten Jahrhunderttalents Lucas Fischer, im August 2010 gravierend verändert hat.


«Ich wache auf. Ich liege auf dem Rücken. Meine Zunge brennt. Mein Mund ist trocken und meine Lippen kleben aufgeplatzt aneinander. Mein Körper fühlt sich vollkommen aufgezehrt an, jeder Muskel ist aufs äusserste strapaziert, mein Kopf ist mürbe und unendlich schwer.» So beschreibt Sarah Elise Bischof in ihrem Buch Panthertage, Seite 143, ihr Erwachen nach einem solchen Anfall. «Die körperliche Regeneration umfasst nur einen kleinen Bereich dessen, was mich nach einem Anfall beschäftigt», betont sie auf Seite 43. «Was bleibt, sind vor allem Schuldgefühle. Die Blicke von Menschen, egal ob fremd oder vertraut, die mich unmittelbar nach einem Anfall treffen, bohren sich tief in mein Unterbewusstsein…»


Hier kommen noch ganz andere Dimensionen zur Sprache als der Anfall an sich und die unmittelbaren Gefahren, die von ihm ausgehen. Hier wird eine dauerhafte Last spürbar, die sich nicht abschütteln lässt.


Wer epilepsiekrank ist, ist chronisch krank, oftmals lebenslang. Das bedeutet nicht, dass ein solcher Mensch ständig Anfälle hat. Es bedeutet vielmehr, dass er sich ständig dieser Gefahr ausgesetzt weiss – und seine Umgebung auch.


Häufig lässt sich das mitunter auffälligste Symptom der Krankheit, der Anfall, mit Hilfe von Medikamenten lindern oder sogar verhindern. Dennoch stellen das Leben mit der ständigen Bedrohung und die teilweise mit einer Epilepsie einhergehenden Beeinträchtigungen und Irritationen eine besondere Herausforderung dar. Manchmal kommen auch unerwünschte Wirkungen der Medikamente hinzu. Nach einer Statistik von Günter Krämer klagen rund ein Drittel der mit Antiepileptika behandelten Menschen über verminderte Energie und Lebensqualität, über Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Das sind Zahlen. Dahinter stehen Menschen, steht ein Mensch, mir gegenüber. Er ist es, mit dem zusammen ich klären möchte, wie er seinen Anfall erlebt, was die Erkrankung und ihre Behandlung für ihn bedeuten, was er von mir braucht – oder auch nicht.


Es ist wichtig, dass der betroffene Mensch zu Wort kommt. Aus diesem Grunde treten beispielsweise in unserem Grundkurs Epilepsie nicht nur Fachpersonen und Wissenschaftler auf, sondern auch jene, um die es geht: Menschen, die von Epilepsie betroffen sind, von deren Behandlung und von unserem Umgang mit ihnen.


Das Literaturverzeichnis finden Sie weiter unten.

Weitere Fachartikel

Informationsmaterialien Epilepsie wie Checklisten und Checkkarten

Lehrbuch «Basiswissen Epilepsie»  für Fachpersonen, die Menschen mit geistiger Behinderung und Epilepsie begleiten

Kontakt

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Jörg Wehr, M.A.

Leiter Bildung und Entwicklung

Tel. +41 44 387 64 80
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Literatur

  • Bauer M., Brief an meinen Sohn, 2017, Limmat Verlag, Zürich
  • Bischof S., Panthertage. Mein Leben mit Epilepsie, 2015, Eden Books, Hamburg
  • Fischer L., Sutter K., Tigerherz. Die Schicksalsgeschichte eines Spitzensportlers mit Epilepsie, 2017, Arisverlag, Embrach
  • Günter Krämer, „Nebenwirkungen von Antiepileptika bei Erwachsenen“ in epikurier 03/2014, Wuppertal
  • Leyhe T., „Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie“, in Epileptologie 1/2016, Schweizerische Epilepsieliga, Zürich
  • Sälke, Ritva A. Kellermann, „Ganzheitliche Diagnostik- und Therapiekonzepte der Epilepsien im Kindesalter“ in Sälke, Ritva A. Kellermann, Jörg Wehr (Hg.) Kind und Epilepsie. Ganzheitliche Behandlungs- und Betreuungskonzepte für Kinder mit Epilepsie, 2010, Hippocampus Verlag, Bad Honnef
  • Schmutz M. et al., „Psychiatrische und psychologische Komponenten der Epilepsiebehandlung“ in Epileptologie 25/2008, Schweizerische Epilepsieliga, Zürich
  • Das Bibelzitat stammt aus der Übersetzung der Lutherbibel 2017